- Hörspiel: Stimmen aus dem Äther
- Hörspiel: Stimmen aus dem ÄtherDie Geschichte des Radiohörspiels begann am 15. Januar 1924 mit einem Kurzschluss in London. Der Bühnenautor Richard Hughes, Verfasser des - wie behauptet wird - ersten Originalhörspiels der Welt, verlegte seine »Comedy Of Danger« (»Gefahr«) in eine Kohlengrube: plötzlich erlöscht wegen eines Kurzschluss' im Stollen das Licht, die Panik des jungen Paares, das lediglich eine Bergwerksbesichtigung machen wollte, überträgt sich auch auf einen alten Bergmann. In der Dunkelheit agieren die drei wie Blinde. Das Hörspiel hat jedoch nichts mit Blindheit zu tun. Der Blinde verhält sich als Zuhörer wie der Sehende, der Sehende wie der Blinde. Untersuchungen ergaben, dass Hörspiele nicht hinter den Augen im Kopf des Hörers stattfinden, sondern in einem ihn umgebenden Vorstellungsraum. Darin haben die einzelnen Szenen eines Hörspiels meist feste Positionen. Vorgestellte Personen können sich links oder rechts vom Hörer aufhalten, im Blickfeld oder hinter ihm, über oder unter ihm. Der Hörer kann inmitten der Szene anwesend sein oder diese aus einer Vogelperspektive beobachten. Er wechselt die Szenen durch Suchen oder Wandern, aber die Schauplätze können auch unabhängig von ihm verschwinden. Wie ausführlich sich ein Hörer Menschen und Räume optisch vorstellt, hängt von seinem Hörstil ab. So genannte Nur-Hörer haben kaum Bilder von Szenen und Personen. Ihr Vorstellungsraum bleibt eine dunkle Höhle. Der Hörer hört nur losgelöste, entwachsene Stimmen. Er sieht Schatten, Flecken, Klumpen, auch identifizierbare, lokalisierbare geometrische Gebilde. Fantasierende Hörer dagegen sehen deutlich die Orte und besitzen ein so lebhaftes Bild einzelner Personen, dass sie diese zeichnen können.Die Bekleidung, die sich der Hörer vorstellt, ist in Gegenwartsstücken modern bis modisch, in historischen sind die Jacken, Hosen und Röcke alt, fremd und festlich. Sympathische Figuren tragen schöne Sachen, unsympathische sind hässlich angezogen. Die optischen Vorstellungen der Hörer sind Erinnerungen an Illustrierte, Filme, eigene Erlebnisse oder Fantasieleistungen, mit der Tendenz, vollwertige Anschauungsbilder zu schaffen, Wahrnehmung zu werden. Dabei begünstigen Szenenstücke, in denen der Schauplatz für den Gang der Handlung entscheidend ist das fantasierende Hören; Personenstücke mit Motiven der Innerlichkeit das Nur-Hören.Das erste deutsche Hörspiel hieß »Zauberei auf dem Sender« und wurde am 24. Oktober 1924 von Frankfurt am Main auf Welle 467 ausgestrahlt. Es war der erste Versuch des Intendanten Hans Flesch, die dramaturgischen Möglichkeiten des neuen Livemediums zu nutzen. Die erste Liveaufführung der Sendespielbühne fand am 3. Januar 1925 in Berlin statt: Der Regisseur Alfred Braun inszenierte »Wallensteins Lager« und ließ seine Sprecher mit Masken und Kostümen vor offenen Mikrofonen und in Bühnenkulissen laut agieren. Insgesamt wurden 1925 bereits 43 Hörspielstunden ausgestrahlt. 1995 hat das Hörspiel 2783 Stunden Programm - 0,6 Prozent des gesamten Hörfunkprogramms. In diesen 70 Jahren wurden ungefähr 50 000 bis 70 000 Hörspiele gesendet, verfasst von Lyrikern, Romanschriftstellern und Dramatikern, inszeniert von Regisseuren aus den verschiedensten Medien und gesprochen von Tausenden von jugendlichen Liebhaberinnen und Helden, Salondamen und Charakterdarstellern, Naturburschen und komischen Alten.Die meisten dieser Hörspielmacher blieben unbekannt. Nur wenige wie etwa Ilse Aichinger, Günter Eich oder Dieter Wellershoff konnten sich mit ihrer Hörspielarbeit einen Namen machen. Auch die Regisseure Walter Adler, Alfred Braun und Gert Westphal verdanken ihren Ruf zu einem Großteil ihren Hörspielen. Im Gegensatz zu diesen Regisseuren und zu den Autoren gibt es kaum berühmte Hörspieler, wohl aber viele bekannte Bühnenkünstler, Film- und Fernsehstars, die immer wieder Hörspielrollen übernahmen. Prominente Vertreter sind etwa Hansjörg Felmy, Manfred Krug, Inge Meysel, Will Quadflieg und Arnold Marquis, der John Waynesynchronisierte. Diese Multimedialität kennzeichnet auch viele Regisseure und Autoren des Hörspiels. Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger sind auch bekannte Buchautoren; Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch berühmte Dramatiker. Und die Hörspielregisseure Rainer Werner Fassbinder und Max Ophüls sind erfolgreiche Film- und Fernsehregisseure.Es gibt kaum ein Genre, das in Hörspielprogrammen nicht vorkommt. Krimis werden gesendet, Western, Märchen, Sciencefiction, Melodramen. Ebenso so zahlreich sind auch die Gattungen, Arten und Stilrichtungen in dieser Sparte. Neben lyrischen, dramatischen und epischen Hörspielen, akustischen Filmen und Schallspielen gibt es Monologe sowie Balladen; Merkmale des Expressionsimus, der Neuen Sachlichkeit und der Konkreten Poesie finden sich in den Hörspielen wieder. In zahlreichen Produktionen wurde immer wieder versucht, die jeweils neuesten Erfindungen der Toningenieure dramaturgisch und stilistisch umzusetzen. Dies betrifft beispielsweise Schnitt, Tongenerator, Filter, Vocoder, Stereophonie, Kunstkopf, tragbares Tonbandgerät oder das digitale Tonsignal. Seine Internationalität und seine Intermedialität verdankt das Hörspiel beliebten Stoffen und Motiven, welche zwischen den Medien und zwischen den Ländern wandern. Dabei werden Novellen, Romane, Theaterstücke, Kantaten, Opern und Filme für den Hörfunk übersetzt und bearbeitet. Das Repertoire des Hörspiels besteht vor allem aus Einzelwerken, die Jahre nach der Erstsendung immer wieder wiederholt werden. Eine Umfrage unter Hörspielredakteuren in den Achtzigerjahren nach den 999 Hörspiele von rund 40 000 bis 50 000 noch existierenden Aufzeichnungen, die es wert seien, immer wieder gesendet zu werden, ergab folgendes Bild: beliebt sind Werke aus der Weimarer Republik, sehr wenige aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, die meisten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, aus Österreich, der Schweiz und aus dem fremdsprachigen Ausland. Herauskam ein Repertoire mit den besten Hörspielen von 548 Autoren. Dabei sind nur zwei Schriftsteller mit mehr als zehn Werken vertreten: Der Österreicher Franz Hiesel mit zwölf und der Deutsche Günter Eich mit 20 Stücken.In der deutschen Hörspielgeschichte spielte der Wechsel von Regierungen und Staatsformen eine viel größere Rolle als der Verlust oder Gewinn von Hörern. Neue Regierungen erzwangen meist neue Ideologien. Veränderte Einschaltquoten beeinflussten die deutschen Hörspielmacher kaum. 1949 gab es viele Hörer (47 %), 1996 nur noch wenige (1 %) - Radiogebühren mussten jedoch alle bezahlen. In den USA dagegen wird das Radio ausschließlich durch Werbeeinnahmen finanziert, was eine andere Programmstruktur zur Folge hat. Es gibt wenig Einzelhörspiele, denn nur mit lang laufenden Serien kann dem Werbekunden die Größe des Publikums einigermaßen verlässlich vorhergesagt werden. Solche Serien waren Fortsetzungshörspiele, sie dauerten 15 Minuten, hießen »Soap-Operas« und liefen über Jahre und Jahrzehnte, oft bis zum Beginn des Fernsehens, das die Serien fortsetzte. Beliebt in den Zwanzigerjahren waren »Amos 'n' Andy« und »The Smith Family«. Erfolgreich in den Dreißigerjahren waren unter anderem »The Stolen Husband«, »Happy Hollow«, »Ma Perkins«, »The Aldrich Family« und vor allem »The Guiding Light«, das zu einer nationalen Einrichtung wurde. Eine radiogeschichtliche Rarität dagegen ist die Soap-Opera »Beagel, Shyster, and Beagle, Attorneys at Law« von den berühmten Filmkomikern, den Marx Brothers Groucho und Chico. Die 25 Sendemanuskripte aus dem Jahre 1932 wurden in den Achtzigerjahren in der Kongressbibliothek in Washington gefunden, vom Westdeutschen Rundfunk und Sender Freies Berlin neu produziert und 1989 bis 1990 unter dem Titel »Die Marx Brothers Radioshow: Flywheel, Shyster and Flywheel« ausgestrahlt.Nach 1945 fand das Hörspiel in Deutschland erneut ein breites Publikum. Besonders erfolgreich wurde Wolfgang Borcherts Hörspiel »Draußen vor der Tür« (1947), das die ausweglose Situation eines Kriegsheimkehrers beschreibt. Günter Eich, Mitglied der Gruppe 47, verarbeitete in seinem Hörspiel »Träume« (1951) die Albträume der Nachkriegszeit. Auch Kriminalhörspiele erfreuten sich großer Beliebtheit. Seit Anfang der Sechzigerjahre wurde jedoch das Fernsehen zunehmend zu einer übermächtigen Konkurrenz. In den Neunzigerjahren werden Hörspiele als Hörkassetten oder -CDs vermarktet und erfreuen sich erneut großer Beliebtheit.Der Rundfunk war ursprünglich ein Livemedium. In den Jahrzehnten, in denen es noch kein Speichermedium für Produktionen gab, waren Hörspiele daher Livehörspiele ohne eigene Dramaturgie. Meist imitierten sie Bühnenaufführungen oder waren akustische Filme. Bertolt Brechts dramaturgische Idee, seinen »Flug der Lindberghs« als ein interaktives Livespiel zwischen Radio und Hörer zu inszenieren, wurde bis heute nicht verwirklicht. Einzig die Täuschung mit dem Live-Hörspiel »The War of the Worlds« (1938) von Orson Welles war erfolgreich, denn die Hörer gerieten wegen des vermeintlichen Angriffs der Marsbewohner auf die Erde in Panik. In den Sechziger- und Siebzigerjahren war es vor allem Paul Pörtner, der das Livemedium Funk in seine Idee von Stücken zum Mitspielen einbezog. Eine konzertante Aufführung eines Text-Geräusch-Musik-Stückes gab es 1988 in Berlin. Der Sender Freies Berlin übertrug das Hörfest »Plot points« live aus dem Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks. Ein Hörspiel mit dem Titel »Apocalypse live« wurde 1995 von Andreas Ammer und FM Einheit live im Bayerischen Staatsschauspiel aufgeführt und vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet. Und in den Neunzigerjahren entdeckten und erprobten junge Hörspielautoren die Interaktivität im Internet, das eine Kombination von Live- und Speichermedium ist: 1994 präsentierten Medienberaterstudenten eigene Hörspiele über den Lindberghflug im Fernsehen des Offenen Kanals, verbunden mit New York und anderen Orten in den USA durch E-Mail- und ISDN-Schaltungen. Die erste interaktive Hörspielreihe »Codewort Larissa 42« im weltweiten Computernetz wurde 1995 aus der Taufe gehoben. Bei dem Live-Hörspielprojekt »hexenring« von Hartmut Geerken gab es 1996 eine Satelliten-Telefonschaltung für die weltweite Beteiligung an der Gestaltung der Sendung. Das Kunstradio des Österreichischen Rundfunks agiert seit 1996 mit der »Familie Auer« im Netz. Die jungen Hörspielmacher bereiten der Gattung Hörspiel den Weg in die Multimedialität.Prof. Dr. Friedrich Knilli
Universal-Lexikon. 2012.